Mut zur Wut

Für die belarussische Zeitschrift pARTizan habe ich einen Beitrag zur belarussischen Musik geschrieben. Da sich in der Zeitschrift selbst nur die belarussische und englische Übersetzung meines Textes finden, stelle ich hier den Originaltext in einer minimalen Überarbeitung zur Verfügung. Viel Spaß beim Lesen.

Mut zur Wut

Ingo Petz organisierte das erste Konzert für die belarussische Band N.R.M. in Deutschland. Hier beschreibt er die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen er bei der Organisation von Konzerten für belarussische Musiker zu kämpfen hatte.


1999, ein heißer Sommer. Wieder mal war ich nach Belarus gereist. Das machte ich seit ein paar Jahren. Ich studierte Russisch und Osteuropäische Geschichte. Belarus hatte es mir angetan. Diese Melancholie, die aus den Feldern und Wäldern wie ein Morgennebel aufzustiegen schien, sie schien zu mir zu passen. Zudem hatte das Minsk der Neunziger etwas Raues, etwas Unbändiges, etwas ungemein Lebendiges und Kämpferisches. Und natürlich war Belarus ein Land, das dort, wo ich herkam – aus dem Westen Deutschlands, nahe der holländischen Grenze -  niemand kannte. Ich kam mir vor wie ein Entdecker, der neues Territorium erforschte. Russisch konnte ich damals schon einigermaßen. Ein Auslandssemester in Wolgograd hatte zum Intensivstudium russischer Rock- und Punkbands geführt: DDT, Kino, Aukcyon, Grazhdanskaya Oborona. „Chodit durachok po lesu...“ Für mich der beste Weg, sich einer Sprache zu nähern: über die Musik, mit der ich aufgewachsen war und über die ich meine eigene jugendliche Wut kanalisieren konnte: Metal, Punk, Hardcore, Grunge.

Immerhin wusste ich zum damaligen Zeitpunkt schon, dass es auch eine belarussische Sprache gibt. Klingt naiv, aber das war mir bei meinem ersten Besuch in Belarus nicht wirklich klar gewesen. Da war ich noch zu sehr damit beschäftigt, mit dem Russischen klar zu kommen und mich in dieser mir fremden Welt einzufinden. Aber 1999 war ich in den belarussischsprachigen Kosmos bereits eingetaucht, was mir nicht leicht fiel. Denn Belarussisch verstand ich eigentlich überhaupt nicht. Was ich aber verstand: das Belarussische war der Zugangscode zu einer für mich geheimnisvollen Welt in einer anderen geheimnisvollen Welt. Denn um das Belarussische wurde damals schon ein Gewese gemacht, so als handele es sich bei dieser Sprache um einen verwunschenen Schatz. Dass ich Belarus schließlich noch näher kam und das Land mich bis heute nicht mehr los lässt, das hat mit diesem Erlebnis im Sommer 1999 zu tun. Sjarhej Sacharau von BMA (Belaruskaja Muzychnaja Alternativa) lud mich damals ein, mit ihm nach Maladzečna zu fahren. „Wir organisieren dort ein Festival mit belarussischsprachigen Bands“, sagte er. „Wird dir gefallen.“

Belarussische Musik kannte ich bis dahin nur als museales Folklore-Stück, was mich überhaupt nicht interessierte. Was ich dann aber bei diesem Volnyja Tancy-Festival in Maladzečna – ich glaube, es fand im Stadtpark statt – zu hören bekam, haute mich um. Da stand dieser schmächtige junge Mann auf der Bühne, die blondierten kurze Haare: strubbelig und widerborstig wie die Stimme. Die hatte etwas Rotziges, etwas Scharfes und Wütendes und dann wieder etwas Melodiöses und ungemein Melancholisches. Dazu dieses wuchtig treibende Schlagzeug, diese aggressiv schreiende Gitarre und ein wummernder Bass, der einem direkt in den Magen ging. Ich muss den Belarussen nicht erklären, welche Bedeutung die Band N.R.M. hat. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick oder beim ersten Hören. Ich hatte keine Ahnung, wovon die Band da sang. Aber intuitiv spürte ich: es ging um Kampf, um Leidenschaft, um Wut, um Liebe, um Trauer, um das Aufbegehren, um das sich-nicht-unterkriegen-Lassen, es ging um: Wahrheit. Für mich muss gute Musik eine starke Energie haben und sie muss eine Haltung transportieren. Und diese Musik, die ich an jenen Tag im Sommer 1999 hörte, war keine Pose, sie war nicht nur Unterhaltung, sie hatte Haltung. Das fühlte ich. Und ich sah es: Ljavon, Juras, Alezis und Pete spielten sich die Seele aus dem Leib. Sie spielten so, als sei dieser Auftritt ihr letzter. Gute Band-Auftritte sind existentielle Erfahrungen, die ein Leben verändern können – und dieses Konzert war eine existentielle Erfahrung. Nicht nur für mich. Die jungen Leute im Publikum – viele sahen mit ihren Kutten, Lederjacken, löchrigen Jeans und Springerstiefeln so aus wie die Punks und Metaller der Achtziger in Deutschland – sangen mit, sie tanzten, sie schrien, Augen glühten, Fäuste wurden geballt, Sehnsucht wurde geboren, Wut entflammte. Publikum und Band vermengten sich zu einer konspirativen Gemeinschaft, die dem Himmel entgegen strebte. Tatsächlich ist dieser Auftritt von N.R.M. eine der schönsten Erinnerungen, die ich mit Belarus verbinde.

Fortan sollte belarussische Musik einen festen Platz in meinem Leben haben. Ich begann Kassetten und CDs aufzuspüren und zu sammeln, Konzerte zu besuchen. Selbst als ich für zwei Jahre nach Neuseeland ging, ließ mich die Musik von N.R.M., Zet, Ulis, Novae Neba, Nejro Dubel, Mroja oder Bonda nicht los (Nein, Lyapis Trubetzkoj gehörte nicht dazu). Außerdem begann ich zu schreiben. Mein erster Artikel, den ich als Journalist über Belarus schrieb, hatte eben diese Musik und ihre Schwierigkeiten mit dem autokratischen Regime zum Thema. Nach dem Besuch des Festivals in Maladzečna, das übrigens von der Miliz beendet wurde, verstärkte sich nicht nur die Idee, noch mehr über Belarus schreiben zu wollen, sondern es wurde auch die Idee geboren, irgendwann mal eine CD mit belarussischer Musik zu veröffentlichen und ein Konzert von N.R.M. in Deutschland zu organisieren. 

2006 war es soweit. In jenem Jahr erschien die CD-Anthologie „The Red Book of Belarusian Music“ und im selben Jahr organisierte ich zusammen mit Maxim Grouchevoi das erste N.R.M.-Konzert in Berlin (und eines in Dresden). Seitdem sind viele Konzerte für Ljavon Volski oder für Krambambulja hinzugekommen. Auch von anderen belarussischen Musikern und Bands wurde ich immer wieder gebeten, für sie ein Konzert in Deutschland zu organisieren. Allerdings habe ich das bis auf eine Ausnahme (Troitsa) immer abgelehnt. Das hat verschiedene Gründe. Ich bin kein Profi-Booker oder Konzert-Veranstalter, sondern Journalist und Autor, dem es wichtig ist, dass solch herausragende Künstler der belarussischen Kultur, wie Ljavon es eben ist, auch in Deutschland wahrgenommen werden. Die belarussische Kultur hat starke Stimmen (nicht nur in der Musik) und es braucht Leute in anderen europäischen Ländern, die sich dafür einsetzen, dass diese Stimmen gehört werden können. Als ich begann, über Belarus zu schreiben und später Konzerte zu organisieren, hatte kaum jemand in Deutschland einen Schimmer von Belarus, geschweige denn von belarussischer Musik oder Literatur. Das sieht heute nicht sehr viel anders, aber immerhin sieht es etwas anders aus. Es gibt mittlerweile junge Deutsche, die sich für Belarus abseits der üblichen Klischees interessieren.

Für mich – das hatte ich bereits gesagt – ist auch immer die Haltung in der Musik entscheidend. Gerade bei Ljavon verbinden sich seine starke Haltung, eine musikalische Wandelbarkeit und Kreativität und seine Verortung in der belarussischen Geschichte und Kultur zu einem Herausstellungsmerkmal, das es mir leichter machte, für ihn Konzerte mit der entsprechenden Werbung in den Medien zu organisieren. Konzerte, die von mehr als 30 Leuten besucht und nicht zu einer kalkulierten Finanzkatastrophe wurden. Denn die Kosten für Anreise, Übernachtung, Essen, Technik, Transport usw. sind nicht zu unterschätzen. Besonders gut funktionierten in Berlin immer wieder Konzerte von Krambambulya. Die Musik lässt sich tanzen und feiern, ohne dass man die Texte verstehen muss. Das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, um die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Konzertes zu kalkulieren. Denn Deutsche verstehen nun mal kein Belarussisch. Und es braucht das deutsche Publikum, um einen Club halbwegs füllen zu können. 

Ich spreche eigentlich ausschließlich von Berlin als potentiellen Auftrittsort. Hamburg kommt unter Umständen in Frage. Aber in fast allen anderen deutschen Großstädten dürften es belarussische Musiker sehr schwer haben, da sich das Interesse für Osteuropa tendenziell in Grenzen hält (Ausnahmen sind evtl. noch Leipzig und Dresden). In Berlin aber gibt es diese jungen Deutschen, die sich tatsächlich für Osteuropa und Belarus interessieren. Zudem existiert eine vergleichsweise große belarussische Diaspora (die sich auch tatsächlich für belarussische Kultur interessiert), die als marktrelevanter Faktor aber kaum Gewicht hat, weil sich mit der Diaspora allein wohl kein Konzert mit mehr als 60 Leuten füllen lässt. Wenn Ljavon solo auftritt, kann ich nicht auf Deutsche zählen, weil sie eben kein Belarussisch können. An ein Honorar, das Musiker, Organisator und Veranstalter zufrieden stellt, ist in dieser Größenordnung überhaupt nicht zu denken. Berlin hat aber auch entscheidende Nachteile. Es gibt zwar hunderte Clubs und Bühnen, wo man als Musiker und Band auftreten kann, aber die Honorare bzw. Prozentbeteiligung an den Einnahmen sind – gelinde gesagt – sehr gering. 

Berlin hat zwar ein offenes, internationales und vergleichsweise neugieriges Publikum, das sich auch für exotische Musik interessiert. Aber jeden Abend finden in der Hauptstadt mitunter hunderte Konzerte statt, sodass es sehr schwierig ist, ein potentielles Publikum für sich zu gewinnen. Das bedeutet, dass man sehr viel Zeit in die Bewerbung des Konzertes investieren muss. Und wer macht so etwas schon gerne umsonst? Das kann in der Regel nur bedeuten, eine intensive Aufbau- und Investitionsarbeit zu leisten, von Jahr zu Jahr immer wieder aufzutreten und zu hoffen, dass man irgendwann einen Mini-Durchbruch schafft (der natürlich in keiner Weise nicht garantiert ist). Das wiederum bedeutet: Arbeit, Arbeit, Arbeit, Energie, Energie, Energie, Frustration, Rückschläge und vor allem: keine Kohle. Aufgrund all dieser Faktoren habe ich es immer wieder abgelehnt, für andere Bands und Musiker aus Belarus Konzerte zu organisieren. Der Aufwand ist einfach zu hoch und das Frustrationsrisiko zu groß. Dies soll nicht heißen, dass es einer belarussischen Band nicht gelingen kann, einen kleinen Club in Berlin halbwegs zu füllen. Wenn ihr also meint, ihr habt das Zeug dazu: versucht es, macht es, lasst euch bloß nicht aufhalten! Und ein kleiner Tipp: lernt Deutsch oder zumindest Englisch, damit ihr das Publikum ansprechen könnt.

Mein Blick auf die belarussische Musik ist ganz sicher eigentümlich und eigenwillig. Aber ich habe mich nie mehr derart in eine belarussische Band verliebt, wie dies bei N.R.M. der Fall war. Projekte wie N.R.M. und Krambambulya hatten allerdings auch den Vorteil, dass sie mehr waren als Bands, die ihre Songs spielen und Rockstars imitieren. Sie verfügten über einen durchaus subtilen und subversiven programmatischen Überbau, der aus den gesellschaftspolitischen Rahmen in Belarus entstanden war. N.R.M. als ein verschworener Staat im Staat, in dem nur die eigenen Träume und die eigene Freiheit zählen. Krambambulya als ein Kollektiv, das sich den grotesken Regeln des real existierenden Belarus mit der Kraft der eigenen Fantasie und Vorstellungskraft und mit der Freiheit des Spaßes verweigert. An solchen Ideen sieht man, wie stark Ljavons Kunstbezogenheit eigentlich ist. Solche Überbauten (die zweifelsohne aus einem belarussischen Kontext erwachsen sind) waren überaus wichtig, um im Vorfeld von Konzerten die Aufmerksamkeit von Journalisten und Medien in Deutschland zu bekommen. Je besser die Geschichte einer Musik und einer Band ist, je tiefer ihr künstlerischer Gehalt, desto mehr sie in Belarus verortet ist, desto besser lässt sie sich „verkaufen“ und umso höher sind die Chancen auf ein gut besuchtes Konzert. Gut gemachte Musik alleine reicht nicht. Es gibt zehntausende Bands, die gute Musik machen.

Viele der belarussischen Bands, die sich in den vergangenen zehn Jahren in Belarus gegründet haben, erzählen mir persönlich keine solchen Geschichten mehr. Pardon für diese Verallgemeinerung und Zuspitzung: viele dieser Bands sind mir schlicht zu brav und zu angepasst (das meine ich nicht unbedingt in politischer Hinsicht, sondern eher in Bezug auf eine kämpferische und non-komformistische Lebensattitüde). Oder sie sind mir schlicht zu folkloristisch. Ich weiß um die schwierige Situation, in der Bands und Musiker in Belarus zu existieren versuchen. Das Überleben als Musiker ist nicht leicht, es ist sogar sehr, sehr schwer. Eine Musikindustrie gibt es in Belarus nicht. Zudem wird die Entfaltung einer Subkultur durch den Kontrollwahn des Regimes gestört. Dennoch frage ich mich: wo ist all die Wut, die man als Jugendlicher doch hat, wenn man sich abreiben und aufreiben will? Wo ist die unbändige, ungebremste Energie, die die Seele tanzen lässt? In der jüngeren belarussischen Rock- und Alternativmusik sehe ich all das nicht. Als ein Fan von Subkultur und Non-Konformismus, die ich als sehr entscheidende Kräfte für die Belebung von Musikszenen verstehe, werden meine Vorlieben in Belarus deswegen schlichtweg kaum noch bedient.

Eine der wenigen Bands, bei der ich sehr hoffnungsvolle Ansätze sehe, ist das Trio TonqiXod (allein über den Bandnamen ließe sich ein kulturanthropologischer Essay schreiben). Mit der Verbindung aus gehaltvollen Texten und einer kratzigen, störrischen und eigenwilligen Prog- und Art-Musik dürfte es die Band schwer haben, auf dem de facto nicht existierenden belarussischen Musikmarkt langfristig Fuß zu fassen. Tatsächlich würde ich gern mal ein Konzert für diese Band in Deutschland organisieren. Aber diese Idee ist die eines Idealisten und Romantikers. Denn um TonqiXod nur annähernd verstehen zu können, muss man nicht nur Belarussisch können, sondern auch die belarussischen Kulturcodes begreifen. 

Schließlich kann man Zuhörern bei einem Auftritt kein erklärendes Glossar reichen.

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